Mittwoch, 14. Mai 2014

Jenseits

Dieser Post ist dem namenlosen Kind gewidmet

Zeit loslassen

Jenseits

Wie haben Sie’s mit der Religion? Sie müssen diese Frage nicht schlüssig beantworten. Sie stellt sich aber im Hinblick auf ganz praktische Entscheidungen, etwa, wo und wie
Sie Ihre Ewigkeit verbringen wollen. In Winterthur haben Sie dazu mehrere Möglichkeiten. 

Da wäre einmal der Friedhof Rosenberg, das Prunkstück unter den Ruhestätten. Als Hauptfriedhof der Stadt verfügt er über ganze 170‘000 m2 und 120‘000 Grabstätten. Die Anlage wurde vom Winterthurer Architekten Robert Rittmeyer entworfen, 1914 eingeweiht und im Laufe der Jahre erweitert. Sie soll zu den schönsten der Schweiz gehören und ist deshalb denkmalpflegerisch geschützt. Im Rosenberg stehen alle Bestattungsarten zur Verfügung: Man hat die Wahl zwischen einem herkömmlichen Sargbegräbnis, einem Urnenfeld, einem anonymen Gemeinschafts- oder gar einem Baumgrab. Letzteres meint eine Grablege unter einem bereits gepflanzten oder noch zu pflanzenden Baum und gilt Schweiz weit als Exklusivität. 

Der jüdischen Gemeinde wird mit einem eigenen Friedhofteil Rechnung getragen, ebenso den Angehörigen muslimischen Glaubens, deren letzte Ruhestätten vorschriftsgemäss nach Osten gerichtet sind. Auch wenn Sie noch nicht mit dem Gedanken an Ihr Ableben spielen, hat Ihnen der Friedhof Rosenberg viel zu bieten. Das merken Sie am besten vor Ort: Architektur und Natur geben sich hier ein Stelldichein, als wär’s ein englischer Landschaftspark. Getrübt wird die Harmonie einzig durch die Geräuschkulisse der nahegelegenen Schaffhauserstrasse. 

Geradezu tosend ist der Lärm in Töss. Die rechteckige Anlage liegt sanft aufsteigend zur akustisch alles dominierenden N1. Ein Friedhofgebäude zeigt die ehrwürdige Zahl 1899, und gleich daneben finden sich die Kindergräber. Name reiht sich an Name der viel zu früh Verstorbenen. Viele Felder sind schön bepflanzt und gewartet, dazwischen ein namensloses, ganz ohne Blumenschmuck. Es stimmt nachdenklich, ja traurig: Wer liegt hier zu schnell vergessen im endlosen Getöse? - Zu den lärmgeplagten Ruhestätten gehört auch der Friedhof Wülflingen, ein fast quadratischer, topfebener Totenacker. Gestalterisch lebt er von der Bepflanzung der einzelnen Grabfelder, denn auf gartenarchitektonische Höhepunkte wurde fast ganz verzichtet. 

Am andern Ende der Stadt profitiert dafür der Friedhof Oberwinterthur von einer lieblichen Hanglage in Kirchennähe und die Friedhofbesucherin von einem philosophischen Intermezzo. Eine Tafel klärt sie über Todessymbole auf. Der Spiegel sei Zeichen des flüchtigen Scheins und die Uhr …  Sie sei Symbol für den unaufhaltsamen Lauf der Zeit, weiss meine Freundin Sônia, weshalb sie keine trage. Philosophisch gibt sich auch der Friedhof Seen. 12 Stelen tragen in grossen Lettern die Aufschrift Zeit loslassen  (oder Zeitlos lassen?). Eine Aufforderung, der man hier gerne nachkommt. Abwechslungsreich terrassiert, von Hecken und Bäumen gesäumt, erblüht der Kirchhof derzeit im schönsten Frühjahrsflor und geniesst ein rares Privileg: Ruhe.

Finden Sie Winterthurs beste Oeuvres am 6.6.14 auf diesem Blog.

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