Montag, 5. Mai 2014

Industriestadt



Bild: Daniel Sigrist

Industriestadt

Industrie, das tönt nach rauchenden Kaminen und dampfenden Maschinen, nach Büez, Schweiss und Arbeitersiedlung, aber auch nach Fortschritt, Villenarchitektur und dann fast zwangsläufig - nach
Umnutzung. Doch beginnen wir von vorne: da, wo auch Winterthurs steile Karriere als Industriestadt ihren Anfang nahm, nämlich an der Eulach und Töss. 

Hier, wo sich in vor- und frühindustrieller Zeit Handwerker und Kleinbetriebe niedergelassen hatten, wo das Bächlein rauschte, das Mühlrad klapperte, wo sich die Wege von und nach Zürich, St. Gallen, Süddeutschland und Schaffhausen kreuzten, war der Boden vorbereitet für Grösseres. Gefragt war freilich eine gehörige Portion Unternehmergeist. Doch der wehte im Winterthur des 19. Jahrhunderts ganz frisch und fast frei, nachdem sich die Stadt 1798 aus der lang-jährigen Zürcher Herrschaft verabschiedet hatte. 

Der Startschuss zur Industrialisierung im grossen Stil fiel bereits 1778. Aber nicht, wie die Lokalgeschichte vermuten liesse, mit der Gründung eines Textilbetriebs, sondern – hätten Sie’s gewusst? – eines Laboratoriums! Es war der Deutsche Johann S. von Clais, der damals den Winterthurer Heiratsmarkt neu auf-mischte (indem er sich für eine Sulzer anstatt eine Ziegler entschied) und danach das Gewerbe, indem er mit einem Ziegler und einem Sulzer die erste chemische Fabrik der Schweiz gründete. 

Dann ging es Schlag auf Schlag: 1802 folgte die Spinnerei Hard in Wülflingen – die älteste mit Wasserkraft betriebene der Schweiz -, 1812 die Spinnerei Rieter, die bald auch Maschinen produzierte und ins ehemaligen Klosters Töss zog, 1834 die Eisengiesserei Sulzer und 1871 die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM). Gelegentlich wurde dem Pioniergeist durch eine kluge Heiratspolitik etwas nachgeholfen, frei nach dem Motto, Was für Könige gut ist, kann für Winterthurer nur recht sein. 

Trotzdem, nicht allen Unternehmen war bleibender Erfolg beschieden. Das Laboratorium musste 1854, die Spinnerei Hard 1924 schliessen. Rieter und Sulzer haben überlebt und das Stadtbild geprägt. Wie, das er-fahren Sie am besten selbst auf dem 14 km langen Industrieveloweg von Oberwinterthur über Hegi bis in die Hard und zurück ins Stadtzentrum. 

Die Kurzversion führt mit dem Bus ins Sulzer-Areal, wo man sieht, was man mit ausgedienten Fabriken so anstellen kann. Wer noch das Ursprüngliche sucht, macht einen Spaziergang und stösst im hintersten Winkel - die Umnutzung ist fortgeschritten - auf einen Rest Industrieromantik, der beinahe schon etwas Verwunschenes hat: Die Backsteinmauern bröckeln, die Fensterscheiben sind versehrt und die rostigen Türen halb von Efeu überwuchert. Ein Brocki profitiert vom Retrocharme des Ortes und bietet Ausgedientes zu überhöhten – findet wenigstens meine Freundin Sônia – Preisen an. Der Kaffee schmeckt am besten im Portier-Häuschen - finde ich - gleich gegenüber, wo sich unverbesserliche Nostalgiker zu Hause fühlen werden.

Lesen Sie am 15.5.2014, wo die Ewigkeit am schönsten ist!

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